Leseprobe: Die andere Seite der Straße

Auszug aus dem im Herbst erscheinenden Kurzgeschichtenband:


„Sieh mal einer an, jetzt hat die Concierge zum neuen Jahr doch noch das Klingelschild auf Hochglanz poliert!“ Madeleine stand vor dem Haus Nummer 451 in der Rue du Beauregard und holte das Päckchen für die 451 mit Briefen, Werbung und wie so oft auch Büchersendungen aus ihrer Posttasche. Sie liebte ihren Zustellbezirk sehr – ein Quartier im Süden von Paris, das auf eine leise, ja nahezu beruhigende Art allen Veränderungen getrotzt hatte. Wohlstand und bescheidenes Kleinbürgertum lebten hier noch neben- und miteinander. Die wenigen wirklich sehr Reichen zeigten ihren Status ebenso wenig nach außen wie die Armen, die mit ihrer Sozialhilfe in einigen Häusern in der Rue du Beauregard die kleinen Wohnungen im Souterrain oder in den Hinterhäusern bezahlen konnten.
Für Madeleine war das Haus Nummer 451 der Abschluss ihrer täglichen Runde. Die letzte Station zwischen ihr und dem Feierabend. Nicht nur deshalb nannte sie es für sich „La Belle“. Es war ein besonders schönes Beispiel für die Architektur des 19. Jahrhunderts und leuchtete seit der Renovierung der Fassade wie ein Diamant am Ende einer Perlenschnur. Die Seite der ungeraden Hausnummern am östlichen Ende der Rue du Beauregard war ohne Zweifel die schönere Straßenseite, denn vis-à-vis hatten die 1970ger Jahre bauliche Spuren hinterlassen, die diesem Teil der Straße das Stigma beschämter Verwahrlosung verlieh.
Anhand der Post, die Madeleine seit Jahren täglich dort bei der Concierge abgab, wusste sie nicht wenige Details aus dem Leben der Bewohner von „La Belle“. Und was ihr die Post nicht verriet, erzählte ihr Madame Pavé, die Concierge, die in ihrer Charakterstruktur zwar sehr gutmütig, aber zugleich geschwätzig und tendenziell eher faul war. Deshalb wusste Madeleine auch, dass die häufigen Büchersendungen für Monsieur Braque mit seinem Beruf als Literaturkritiker zusammenhingen. Oder dass die regelmäßigen Briefe aus Australien an Madame Choulu von ihrer Tochter stammten, die im Outback teure Exkursionen für Touristen aus Frankreich, Kanada und Belgien anbot.
In den anderen Häusern, welche sich noch Conciergen leisteten, gab sie die vorgeschnürten Päckchen einfach ab. Nicht so hier, in La Belle. Hier hatte sie es sich zur lieben Gewohnheit gemacht, die Briefe vor der Abgabe kurz durchzublättern. Sie musste doch wissen, ob sich der Bruder von Marcel Carnach endlich mal wieder meldete oder ob bei Yvette Midi inzwischen die dritte Mahnung des Finanzamtes ins Haus flatterte.
Bei der Durchsicht des heutigen Stapels stutzte Madeleine. Da war ein seltsamer Brief, handschriftlich adressiert an Monsieur Dupont, gestempelt im Martinique. Monsieur Dupont, Vorderhaus, Beletage bekam fast nie Post und wenn, dann waren es Briefe von Vermögensberatern oder der Jahresbrief seines Golfclubs. Aber nie etwas wirklich Privates. Und als wäre das nicht schon seltsam genug, war dieser Brief mit der zarten Frauenhandschrift nicht an Jules Dupont, sondern an Maurice Dupont adressiert. Madeleine hätte das Ganze als Schreibfehler oder vielleicht als den zweiten, ihr unbekannten Vornamen abhaken können. Aber sie wusste, dass es tatsächlich auch einen Maurice Dupont gab – er wohnte genau gegenüber in der Nummer 452. Dieses Haus war einer der grauen Flecken der Straße. Maurice lebte dort im Hinterhaus, Souterrain und war laut Madame Pavé der jüngere Bruder von Jules Dupont. Maurice erhielt ebenso wenig Post wie Jules – und wenn, dann waren es Mahnungen.

….

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: